Lesen, schreiben, zuhören und verstehen – intelligente Maschinen können immer mehr Dinge, die bisher nur Menschen konnten. Was bedeutet das für unsere Jobs? Und für uns?
Algorithmen, intelligente Software und Roboter können immer mehr Dinge, zu denen noch vor Kurzem allein der Mensch fähig war. Über die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) und deren Folgen berichtet ZEIT ONLINE in der neuen Serie Maschinenraum.
Stellen Sie sich vor, es gäbe ein intelligentes Computersystem, das Krebsdiagnosen stellen kann wie der weltbeste Facharzt. Das Tausende Gerichtsurteile nach Argumenten durchforstet wie eine Anwältin. Eines, das Serverprobleme behebt wie eine Systemadministratorin, Industrieanlagen energieoptimiert wie ein Ingenieur. Eines, das auf Knopfdruck Texte schreibt wie ein Journalist: Finanzberichte, Unternehmensanalysen, Sportmeldungen. In wenigen Sekunden.
Gibt es schon. Das ist keine Science-Fiction. Es geschieht jetzt. Heute. Und es wird wohl bald auch Ihr Leben verändern. Und Ihren Job. "Die neuesten Entwicklungen der Computer und der digitalen Technologien werden für unsere mentalen Kapazitäten das bedeuten, was die Dampfmaschine einst für unsere Muskelkraft bedeutete", sagen die MIT-Forscher Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee. Derzeit entsteht eine neue Generation von Maschinen, die nicht nur besser heben, schweißen, bohren können als Menschen, sondern auch immer komplexere kognitive Aufgaben übernehmen: Lesen, Schreiben, Sprache und Zusammenhänge verstehen. Wir stehen an der Schwelle einer neuen industriellen Revolution, die sich leiser und unsichtbarer vollzieht als alle vergangenen, weil Algorithmen weder wummern und stampfen wie einst Dampfmaschinen, noch Autotüren umherwirbeln wie Fertigungsroboter. Unsere Arbeitswelt wird schon in wenigen Jahren eine völlig andere sein.
Dafür verantwortlich sind drei Entwicklungen, die sich gegenseitig bedingen und verstärken: Erstens wächst die Rechenleistung exponenziell und mit ihr die Datenmenge, die zu bewältigen ist. Zweitens können Maschinen nicht mehr nur strukturierte Daten verarbeiten, wie etwa Zahlen und Statistiken, sondern auch unstrukturierte Daten: Text, Fotos, gesprochene Sprache. Und drittens haben die Maschinen in den vergangenen Jahren gelernt, zu lernen. Mithilfe neuronaler Netze – Schichten künstlicher Neuronen, die ähnlich miteinander verbunden sind wie Nervenzellen – brauchen Rechner heute nur noch eine ausreichend große Datenmenge, die sie durchspielen und analysieren können, ein Ziel und etwas Training. Neue Verknüpfungen, Muster und Lösungen entdecken die smarten Maschinen dann von selbst und ohne dass Menschen noch nachvollziehen könnten, welchen Weg sie dabei gehen.
Wie geht die Geschichte für uns aus?
Auch nicht Menschen wie Lee Se-dol, der südkoreanische Meister des legendär komplizierten Brettspiels Go: "Ich bin geschockt!", sagte er, nachdem er im März zum ersten Mal von einem Computer besiegt wurde. Ein Meilenstein in der Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Die Maschine hatte zwar nicht ohne Fehler gespielt, aber sie hatte Se-dol mit Zügen und Strategien überrascht, die kein Mensch je zuvor gesehen hatte.
Überraschungen dieser Art werden sich häufen, je weiter sich die klugen Maschinen entwickeln. Wird die Zukunft so zur Wirklichkeit gewordenen Science-Fiction? Und wie geht die Geschichte für uns aus?
Vielleicht beginnt man die Suche nach der Antwort am besten dort, wo gerade fleißig an dieser Geschichte geschrieben wird. In Hamburg zum Beispiel, Beim Strohhause 17. Im vierten Stock des kühlen Büroturms sitzt Wolfgang Hildesheim in einem verglasten Eckzimmer und blickt über den Osten der Hansestadt. Wolfgang Hildesheim ist Elementarteilchenphysiker und seine Rolle die eines Berufsrevolutionärs. Beim IT-Konzern IBM ist er als Manager der Watson Group im deutschsprachigen Raum für das Computersystem verantwortlich, das für viele zum Inbegriff der Potenziale künstlicher Intelligenz wurde: Als erster Computer gewann Watson im Jahr 2011 mit der Frage "Who is Bram Stoker?" die Spielshow Jeopardy. Auf YouTube kann man den bis dahin weltbesten Jeopardy-Spielern Brad Rutter und Ken Jennings zusehen, wie sie im Kampf gegen die viel schnellere Maschine erst die Geduld und dann die Hoffnung verlieren. Am Ende fügte Jennings seiner letzten Antwort eine Notiz hinzu: "I for one welcome our new computer overlords." Der Mensch hat seinen Meister gefunden.
Wolfgang Hildesheim lächelt darüber. "Die Geschichte der künstlichen Intelligenz ist eben auch eine kleine Geschichte der Demütigung für uns Menschen", sagt er. "Weil Computer in Domänen vorgedrungen sind, von denen man dachte, sie seien der menschlichen Intelligenz vorbehalten. Zuerst war es Schach, dann Jeopardy, dann Go." Aber Watson will nicht nur spielen.
Hildesheim kann lange aufzählen, in welchen Branchen Watson seither einen Job gefunden hat. Watson erfindet Rezepte. Watson stellt Leukämie-Diagnosen, für die menschliche Ärzte zwei Wochen bräuchten, in zehn Minuten. Watson wird als Bankberater eingesetzt und als Shoppingassistent. Für die Versicherungskammer Bayern hat IBM gemeinsam mit der Münchner Hochschule für angewandte Wissenschaften das System so trainiert, dass es Kundenbriefe und E-Mails nicht nur lesen kann, sondern dabei auch Unmutsäußerungen und den Grad der Verärgerung erkennt. Watson kann sich am Telefon unterhalten wie ein Callcenter-Mitarbeiter. Und für den HorrorthrillerMorgan hat Watson gerade einen kompletten Filmtrailer geschnitten. Dafür fütterte man das System zunächst mit 100 Trailern anderer Horrorfilme, die es visuell, klanglich und kompositorisch analysierte, um herauszufinden, was einen gruseligen Trailer zu einem gruseligen Trailer macht. Den gelernten Mustern folgend, schnitt Watson dann den Spot aus dem Material von Morgan. In dem Film geht es konsequenterweise um ein künstlich intelligentes Wesen, das seinen Erfindern entgleitet. Dem von Watson geschnittenen Trailer nach geht die Sache nicht gut aus.
Tatsächlich warnen Denker wie der Physiker Stephen Hawking vor der potenziell zerstörerischen Kraft künstlicher Intelligenz, sollte sie falsch eingesetzt werden. Der Tesla-Gründer Elon Musk sieht in einer unregulierten Entwicklung der künstlichen Intelligenz "unsere größte existenzielle Bedrohung" und Bill Gates sagt, er verstehe niemanden, dem die rasante Entwicklung der KI keine Sorgen bereite. Smarte Maschinen wie Watson wirken auf viele Menschen ziemlich gruselig.
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